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Vater werden ist nicht schwer, Vater sein...
#8
Dann machen wir hier mal weiter.

Nachdem mein Vater also plötzlich und unerwartet "unbekannt verzogen" war, wie meine Mutter es gegenüber Dritten
ausdrückte, holte sie wohl einen Teil dessen nach, von dem sie wohl meinte, ihn all die Ehejahre verpaßt zu haben. Wirtschaftlich und
familiär ging es dabei stetig bergab. Meine Schwester kam in in eine Betreuungseinrichtung für behinderte Kinder und behinderte junge Erwachsene, weil sie nicht einmal mehr den Sonderschulabschluß schaffte. Sie kam dann nur jedes zweite Wochenende nach Hause. Zwischenzeitlich mußte mein älterer Bruder auf meine Schwester und mich aufpassen, wenn meine Mutter "auf Achse" ging oder abends kellnerte, um die Familienkasse aufzubessern.
Mein Bruder wollte aber nach einiger Zeit nicht mehr ständig die Nanny für seine Geschwister geben und uns bekochen, während seine Kumpels sich im Freibad austobten oder am Wochende um die Häuser zogen. 
Nach einem "klärenden Gespräch" zwischen ihm und meiner Mutter, bei dem ein Teil unseres Küchenmobiliars zerstört wurde, zog er vorübergehend bei meinem Vater ein. Dort verbrachte er aber auch nur ein paar Wochen, nachts auf dem Sofa, tagsüber auf der Straße.
Schliesslich landete er, nachdem er einige Zeit mit Schaustellern unterwegs war und dies bis zu seiner Volljährigkeit, in einem Heim für schwer erziehbare Kinder, wo er eigentlich nicht wirklich hingehörte. Das habe ich allerdings erst viel später erfahren. Im Sprachgebrauch meiner Mutter hielt er sich in einem "Internat" auf.

Meine Mutter nahm nun ein Studium der Sozialpädagogik auf. Ich wurde aus dem Kindergarten abgemeldet und verbrachte zusammen mit meiner Mutter, etwa achtzehn Monate, bis zu meiner Einschulung, in verschiedenen Hörsäälen in der hiesigen Fakultät. Meine Freunde sah ich in dieser Zeit kaum noch. Ich war von früh bis spät ausschliesslich von Erwachsenen umgeben, die ganz beeindruckt von meinem Sprachschatz waren. Kein Wunder, denn mangels Alternativen mußte ich ja versuchen, den Vorlesungen an der Uni zu folgen, um nicht vor Langeweile zu sterben.
Vor lauter Eintönigkeit lernte ich sogar noch vor meiner Einschulung das Lesen und zu meinem 6. Geburtstag bekam ich "Meyers grosses Handlexikon" (welche Auflage, das ist mir gerade entfallen), das ich mit Begeisterung verschlang. Der Nachteil an dieser Entwicklung war, daß ich Probleme bekam, mit gleichaltrigen Kindern zu kommunizieren. Wem im Gespräch die Argumente ausgehen, der verleiht seiner Meinung auch mal mit Gewalt Nachdruck und das war die Lektion, die ich dann über lange Zeit immer wieder von meinen Altersgenossen schmerzlich lernen mußte.

Meinen Vater sah ich alle vierzehn Tage über das Wochenende. Manchmal auch nur alle vier, oder alle sechs Wochen. Entweder, weil er meine Schwester und mich nicht abholte, oder weil meine Mutter etwas anderes vorhatte und nicht bis zur Übergabe von uns Kindern warten wollte oder konnte. Ich war eigentlich auch gar nicht so wild auf diese Besuche bei ihm. Papa besuchte auch am Wochende seine Kunden und so mußte ich oft auf dem Rücksitz seines Autos warten, bis er seine Verträge unterschriftsreif verhandelt hatte. Das konnte durchaus schon einmal ein paar Stunden dauern. Gerade im Hochsommer nur bedingt stressfrei, nicht jeder Parkplatz hat einen schattenspendenen Baum im Angebot. Natürlich kann man auch seinen gemütlichen Platz mit Backofencharme auf dem Rücksitz verlassen und zu Fuß ein paar Runden um das Auto drehen, aber dann knallt einem die Sonne eben direkt ins Gesicht , der Gestank des dampfenden Asphalts beißt in der Nase und der Boden brennt unter den Füssen. Im Winter war es auch nicht besser. Aber da erbarmte sich wenigstens gelegentlich die Kundschaft meines Vaters und ich konnte irgenwo in einer Küche oder auf dem Flur des Interessenten warten. Das war zwar auch sterbenslangweilig, aber wenigstens nicht ganz so kalt wie die Wartezeiten mit meiner zu kurzen Wolldecke im Auto.

Das Haus, das mein Vater vor seinem "Auszug" angemietet hatte, war konnte sich meine Mutter nun auch nicht mehr leisten und zum ersten Mal in meinem Leben zog ich zu Beginn der 2. Klasse, Grundschule, mit meiner Mutter um. Zwar nur ein paar Kilometer weiter, aber das gewohnte Umfeld war weg. An diesem Punkt hatte ich echte Existenzängste und Angst vor der Zukunft. 60 Prozent meiner liebgewonnenen Familienmitglieder 1. und 2. Grades waren in meinem Alltag faktisch nicht mehr existent. Mein Heim, in dem ich bis dahin aufwuchs, mußten wir aufgeben. Bekannte Gesichter aus der Umgebung, liebe Nachbarn, alle nicht mehr da. Im neuen Wohnort hatte ich daher grosse Anschlußschwierigkeiten und heulte schon aus nichtigsten Anlässen, was meine Akzeptanz bei gleichaltrigen Kindern nicht gerade erhöhte. Ich entwickelte mit der Zeit ein grosses Anerkennungsbedürfnis. Ich war aber so sehr von meinen Ängsten gefesselt, das ich häufig unkonzentriert war. Als Ergebnis verschusselte ich in der Schule oft meine Hausaufgaben oder verpasste einige der wenigen Möglichkeiten zu einer Verabredung mit Klassenkameraden nach dem Ende des Unterrichts. Als Folge dessen war ich der Dauerkandidat zum Nachsitzen nach Schulschluß und damit als potentieller Verabredungsbeteiligter bei den Klassenmitgliedern schon gar nicht vakant.

Aber schon sieben Monate, nachdem wir erstmalig umzogen, ging es auch schon weiter in den nächsten Ort um die Ecke, so daß ich die Chance hatte, neu anzufangen. Es gab wohl Stress mit der Ehefrau des Vermieters, der ein Auge auf meine Mutter geworfen hatte und seine Zuneigung ihr gegenüber wohl zu deutlich an den Tag legte. Wie auch immer, irgendwie fing im neuen Ort in der Schule und in der Freizeit alles so an, wie es zuvor aufgehört hatte und so hatte die Rabaukenqlique des Schulhofs ihr neues Lieblingsopfer gefunden.
Um nicht jeden Tag vor den Schultoren vermöbelt zu werden, übernahm ich die Strategie von Forrest Gump ("Lauf, Forrest! Lauf!").

Ich wurde mit der Zeit unheimlich schnell und üpersprang als "Leichtgewicht" schliesslich sogar mühelos Distanzen an die sechs Meter. Samt Schultornister, wohlgemerkt. So konnte ich oft meine wasserscheuen Verfolger am anderen Ufer des hiesigen Mühlenbaches abschütteln.
Ein weiterer Vorteil war, daß ich durch meine regelmässige Flucht vor dem gewaltbereiten Mob natürlich auch den Schulbus verpaßte und die sechs Kilomter bergauf zu Fuß nach Hause ging, was meiner Kondition sicherlich nur zugute kommen konnte.  

Selbstverständlich blieb den lieben Schulschlägern noch reichlich Gelegenheit, mir in den unbeaufsichtigten Momenten im Klassenzimmer eine kräftige Kopfnuss zu geben. Oder sie versuchten im Schulbus, mitunter erfolgreich, wenn eine enge Kurve die ganze Aufmerksamkeit des Fahrers forderte, mir einen kräftigen Tritt vor das Schienenbein oder einen Schlag in die Magengrube zu verpassen. Am demütigsten war es allerdings, wenn sie mich mehreren Leuten festhielten, mich dann samt Tornister auf den Kopf stellten und diesen öffneten. Der herauspurzelnde Inhalt wurde in Fußballmanier in der Gegend verteilt und das eingepackte Frühstücksbrot zum Pfannkuchen transformiert . Mit hochrotem Kopf mußte ich dann unter Jubel- und Schmährufen der Schülerschaft mein Zeug wieder in die Tonne kramen.
Beliebt war es bei meinen Peinigern auch, den Viktualiengehalt meines Tornisters zu prüfen und wenn zufällig eine Banane darin enthalten war, berherzt auf den Ranzen zu springen. Das war nicht nur eine demütigende Schweinerei, sondern auch sehr schmerzhaft, denn manches Mal hatte ich den Tornister dabei noch auf dem Rücken. Meiner Mutter, die oft mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, wollte ich auf keinen Fall auch noch mit meinen "Integrationsschwierigkeiten" belasten und erfand irgendwelche Geschichten von meinem eigenen Mißgeschick. Mama schimpfte zwar etwas, weil sie die Bananenbrei aus dem Tornister entfernen mußte und auch, weil neue Hefte ohne Bananenschmadder fällig waren, aber damit hatte es sich. Ich habe übrigens noch heute drei große Atlanten mit Bananenaroma aus dieser Zeit. Meine Beschwerden bei den Lehrern wurden meistens damit abgetan, das ich mit meinen weinerlichen Attitüden die Schülerschaft zu so einem Verhalten geradezu herausforden würde. Einige Lehrkräfte waren davon sogar so genervt, daß sie mich mit ein paar zusätzlichen Hausarbeiten bedachten. Der erzieherische Gedanke dabei gab ihnen Recht. Danach habe ich niemals wieder einen Lehrer auf meine Probleme angesprochen.

Nach weiteren zwei Jahren, unsere Bleibe fing heftigst an zu schimmeln, zogen Mama, meine Schwester und ich erneut um. Wieder nur ein paar Kilometer weiter weg. Ich durfte meine bisherige Schule auch weiterhin besuchen. Diesmal tat sich meine Mutter mit einer befreundeten Alleinerziehenden zusammen, die eine pupertierende Tochter mit in die WG brachte. Meine Mutter kannte ihre Mitbewohnerin noch aus Schulzeiten. Der anfänglichen Euphorie wich die Erkenntnis, das die Freundin eine Radikalfeministin war. Einer ihrer Antworten auf meine kindlich gestellten Fragen, wie etwa die, "was mich zum Mann macht", war: "Mein lieber Sixteen Tons, bevor du ein Mann wirst, werde du doch erst einmal ein Mensch."
"Du Mama. Wenn Papa tot ist kauf ich mir meinen eigenen Ponyhof!" - CosmosDirect Lebensversicherung, 2007

Quelle: http://de.wikiquote.org/wiki/Vater
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RE: Vater werden ist nicht schwer, Vater sein... - von Sixteen Tons - 08-06-2015, 23:50

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