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Der plötzliche und unerklärte Tod
#1
Im Falle des Suizids sollte man annehmen, dass in unseren Breitengraden kein Anlass hierzu besteht. Das soziale Netz ist dicht geknüpft und keiner braucht auf Zuwendungen verzichten. Ist doch ganz einfach: Problem erkannt, Profession auf Krankenschein aufgesucht und Problem gebannt.
Naja, und wenn der spätere Selbsttöter die üppigen Hilfsangebote nicht annimmt, oder die ihm anvertraute Hilfestellung nicht den erwarteten Erfolg hatte, dann liegt das halt in seinem Ermessen, sich selbstbestimmt das eigene Leben zu erhalten oder zu nehmen. Insoweit ist das Tabu jenes, sich nicht weiter mit dem Problem des Betroffenen herumschlagen zu müssen, weil das Leben der Übrigen weiter geht und von der Tat insoweit unberührt bleibt.

Auch mein Leben geht weiter, wenn sich mal ein Arbeitskollege das Leben nimmt, wie vor drei Wochen geschehen.
Und so viel anders als zuvor ist es dann auch nicht. Ich käme auch nicht auf die Idee, die Tat mit meinem Kind zu besprechen oder der eigenen Gemahlin zu offenbaren, dass der Arbeitskollege sich das Leben nahm, weil er inzwischen als familienferner Besuchsonkel von seiner älteren Tochter einen Korb verpasst bekam, als er sie zum Bespaßungs-Wochenende abholen wollte und somit eine intern bereits bekannte Depression hierüber getriggert wurde.
Ich wäre ja doof, meiner Gemahlin so eine Steilvorlage zu geben, für den Fall, dass sie Trennungsabsichten hegt, von denen wir Väter meist erst Notiz nehmen, wenn der Gedanke bereits so weit gereift ist, dass bestenfalls eine totale Unterwerfungsgeste die Trennung noch abwenden könnte.
Nö, meine sich hieraus speisenden Ängste bleiben in mir, verschlossen und gut behütet. Meine Ängste sind bei mir gut aufgehoben und gezeigte Schwäche wird nur von anderen ausgenutzt. Also bin ich stark, wie zuvor und auch weiterhin, eine Unterwerfung sird es mit mir nicht geben. Und sollte ich dennoch schwach werden, mich mit einem Selbsttötungsgedanken plagen, bleibt das meine Sache; vollends in meiner Verantwortung.

Das so Tabu trägt sich somit selbst, vom Einzelnen bis in die Gesellschaft.
Zuerst machte eine Rundmail auf ein unerwartetes Versterben eines geschätzten Kollegen die Runde, wohl ein Tag nach Bekanntwerden und 2-3 Tage nach dem Todeseintritt.
Ein Kondolenzbuch wurde ausgelegt, in das ich mich nicht eingetragen habe. Wozu auch? Wer erhält es und was sollte ich den Hinterbliebenen hineinschreiben? Worte der Aufmunterung an die trauernde Witwe, oder Schuldzuweisungen an alle, die da "ein wenig nachlässig" im Umgang mit den Befindlichkeiten und dem Befinden des Verstobenen waren, oder eine allgemeine Floskel?

Auf einer betrieblichen Veranstaltung, zwei Wochen später:
„Unser hoch geschätzter Kollege, Volker F. (Name geändert), […] ist auf besonders tragische Weise ums Leben gekommen. Ich bitte nun um eine Minute der stillen Anteilnahme.“ – Es folgt eine 15-sekündige „Schweigeminute“, weil, die Veranstaltung muss ja weitergehen und die Kopfkinos sollen besser abgeschaltet bleiben.
Ein Betriebs- oder Wegeunfall wäre an dieser Stelle unzweifelhaft als solcher benannt worden, wie auch eine sog. schwere Krankheit, ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt.
Mehr gab es zu diesem Fall aber nicht zu sagen, keine unangenehmen Fragen zu stellen und keine zu beantworten. Nicht einmal in Frieden möge er ruhen.

Lieber Volker F.,

ich distanziere mich hiermit von der dir zuteil gewordenen Verabschiedung, bei deinem Arbeitgeber, die deiner nicht würdig war, weil bisher keine Aufarbeitung erkennbar vorgesehen ist.
Dein Leben war dir nicht mehr ausreichend Wert gelebt zu werden, als sich auch noch eines deiner Kinder von dir abkehrte.
Aber nichts geschieht völlig umsonst und bleibt folgenlos.
Du bleibst mir als weitgehend fremder Mensch in Erinnerung, der mir mit seinem Suizid einen Anreiz gegeben hat, mich mit dem Thema Depression noch intensiver auseinanderzusetzen. Mit etwas Glück und eigenem Zutun, gelingt es deinen ehemaligen und verbliebenen Kollegen aus deinem Schiksal wichtige und richtige Lehren zu ziehen, die eigene Lebensqualität zu erhalten oder gar zu steigern.
Ruhe in Frieden.

Nicht erst am Rande der Veranstaltung wurde in Einzelgesprächen darüber gesprochen, was passiert ist, weil immer Irgendwer etwas mehr als der andere weiß. Da es überwiegend Dialoge waren, bleibt weitgehend ungeklärt was genau gesagt wurde, was die Gesprächsteilnehmer aus den Gesprächen mitnahmen. Nur Eines wussten alle mehr oder minder nahen Kollegen: Der geschätzte Kollege, der nun nicht länger unter uns weilt, vollzog die Selbsttötung.
Auch ich wusste seit ungefähr zwei Jahren, um die fragile familiäre Situation des völlig überraschend Verstorbenen, bescheid, denn er sprach mich darauf an. Ich wusste aber bis zu seinem Tod nicht, dass Depressionen bereits seit langem sein Leben begleiteten. Er hatte es mir nicht gesagt, als er mit mir über seine bevorstehende Trennung sprach, ein Jahr später diese noch nicht vollzogen war, weil er doch der Kinder wegen versuchen wollte die Familie zusammenzuhalten und bis zu seinem Suizid, ein weiteres Jahr später.
So konnte ich ihm auch nicht mitteilen, dass, zumindest gefühlt, weil danach zu fragen schließlich tabu, ungefähr ein Viertel bis ein Drittel der unsere Selbsthilfegruppe aufsuchenden (meist) Väter, mit Depressionen zu tun hatten oder haben, oder dass es manchmal rauskommt, wenn erst ein Betroffener darüber in der Gruppe spricht und andere mutig darauf einsteigen.

Nicht etwa, dass mich jetzt übergroße Selbstzweifel plagen, aber ein ungutes Gefühl und einige Fragen sind geblieben.
Eine dieser Fragen habe ich mir insoweit beantwortet, dass ich nun diesen Beitrag verfasst habe und auch hier einstelle. Es war die Frage: Tabu erhalten oder durchbrechen?
Die übrigen Fragen betreffen meine Wahrnehmungsqualitäten und die Beratungspraxis.

Die Suizidrate von Männern liegt annähernd dreimal so hoch wie bei Frauen und ich bin davon überzeugt, dass sich hier etwas dringend ändern muss - an den Zahlen insgesamt, aber auch in Bezug zum Gender Gap. Auf Gender-Kompetenz werde ich freilich nicht zählen können, haben sich die sogenannten Experten auf jenem Gebiet derzeit wichtigere Themen, wie z.B. die Mädchen gerechte Spielplatzgestaltung, oder wie mehr Männer in Kitas untergebracht werden könnten.

Ich werde also zukünftig mein Bestreben ausbauen, in der Ersthilfe die lebenserhaltenden Maßnahmen stärker in den Vordergrund zu stellen. Dergestalt, dass ich munter und frohen Mutes auf die Betroffenen zugehe und deren psychische Belastungsfähigkeit anspreche, bevor ich über die Tücken deutscher Familienrechtspraxis informiere.

Was kann ich noch tun?
16.02.2012, BILD: "Das Halbwahre ist verderblicher als das Falsche." (Ernst Freiherr von Feuchtersleben)
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Nachrichten in diesem Thema
Der plötzliche und unerklärte Tod - von Bluter - 23-10-2012, 10:46
RE: Der plötzliche und unerklärte Tod - von karlma - 23-10-2012, 16:44
RE: Der plötzliche und unerklärte Tod - von Nappo - 23-10-2012, 20:22

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