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Vater werden ist nicht schwer, Vater sein...
#3
Meine Grossmutter und meine Großtanten blieben also mit ihren Kindern in der Region, in die sie nach dem Krieg vertrieben worden waren.
Im Grunde konnte sich die ganze mütterliche Sippe gegenseitig nicht ausstehen, aber die Not und der tägliche Kampf ums Überleben schweißte sie in den ersten Nachkriegsjahren zusammen.
Viele Ehemänner eben dieser Frauen, die Väter ihrer Kinder, blieben auf dem Schlachtfeld zurück oder verschwanden ohne Rückkehr in der Kriegsgefangenschaft und so verbandelten sich die Frauen dort neu. Mit Beginn der ehelichen Rollenverteilung hatte auch die größte Not endlich ein Ende gefunden und man mußte wenigstens nicht mehr ständig hungern wie bisher.
Auch meine Großmutter lernte jemanden kennen, einen Stahlgiesser, der sich für bescheidenen Lohn seinen Schweiß am Hochofen aus den Poren presste. Als meine Oma dann Mitte der fünfziger Jahre wieder schwanger wurde, liess sie endlich meinen leiblichen Großvater für tot erklären, von dessen karger Kriegswitwenrente sie bis dahin gezehrt hatte und so bekam meine Mutter auch offziell mit der Eheurkunde einen Stiefvater.

Die neue Familie lebte weiterhin in äußert bescheidenen finanziellen Verhältnissen, so daß meine Oma auch weiterhin bis spät in die Nacht Nadel und Faden schwingen mußte. So lernte meine Mutter auch das Kochen nicht, weil meine Großmutter Angst hatte, das ihre Tochter das Essen verderben würde und einen zweiten Versuch konnte die Haushaltskasse einfach nicht verkraften. Meine Oma war wegen der durch die Kriegsfolgen erlitteten Traumata sehr streng, sie geizte auch nicht mit körperlicher Züchtigung an ihren Kindern. Alles, was ihr zusätzliche und kostenintensive Arbeit machte oder den Haushaltsetat unnötig schmälerte, ahndete sie mit unerbittlicher Härte und ihr Gatte tat es ihr gleich. Unnötiges Verschmutzen der Kleidung, ein Loch in der neuen Hose, Beschädigung von Hausrat oder Verlust von Gegenständen oder unerlaubter zusätzlicher Lebensmittelkonsum aus der Speisekammer führten zu drakonischen Strafen, meistens in Form einer deftigen Tracht Prügel. Nach Großmutters Auffassung waren alle Menschen, welche diese natürlichen Zusammenhänge nicht begriffen, daß jede Nachlässigkeit in der Disziplinierung ihrer Kinder wieder unweigerlich in eine Hungersnot führen mussten, komplette Idioten. Das ging später sogar fast so weit, das sie ihren erstgeborenen Kindern nicht einmal mehr den Dreck unter dem Fingernagel gönnte. Auch war Bildung war kein so grosses Thema in dieser Familie, Bildung war nach dortiger Auffassung für das Stillen der menschlichen Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen in jeder Hinsicht einfach nur hinderlich, daher waren besonders die vergeistigten Menschen meiner Großmutter ein Greuel. Zusammenfassend kann man sagen, daß es sich bei meiner Oma um eine sehr engstirnige Person handelte.

Wenn Oma die Wahl gehabt hätte zwischen Meyers großem Handlexikon und einem leckeren Mittagessen, dann hätte sie sich sicher für das Essen entschieden, die getätigte Mahlzeit konnt ihr im Gegensatz zu der blöden Enzyklopädie niemand mehr wegnehmen.
Erst sehr spät realisierte sie, daß ein bisschen Bildung ihren Kindern auf dem Weg in einen auskömmlichen Beruf nicht schaden könnte.
Auf keinen Fall wollte sie die hungrigen Mäuler länger als nötig am Rockzipfel hängen haben. So gestattete sie meiner Mutter später den Besuch einer weiterführenden Handelsschule.

Meine Tante, mittlerweile eine adrette und herangewachsene junge Dame geworden, hielt irgendwann den spießigen und gewalttätigen Alltag ihres Elternhauses nicht mehr aus und flüchtete mit ihrer Liebschaft, einem einfachen britischen Soldaten, nach Großbritannien. Das ihre älteste Tochter damit quasi mit den Besatzungsmächten paktierte, hat ihr meine Oma lange Zeit sehr Übel genommen und fluchte dazu lauthals wie ein Bierkutscher. Aber damit rückte meine Mutter an die Stelle der ältesten Tochter des Haushalts und bekam sogleich und vornehmlich deren bisherige Pflichten aufgehalst, z. B., auf ihren jüngeren Bruder aufzupassen.

Als meine Mutter in das Alter kam, an dem gleichaltrige Jungen für sie interessant wurden und sich auch die Jungen für sie mehr interessierten als bisher, wurde Großmutters Regiment noch rigider und strenger als ohnehin schon. "Bring mir bloß kein Balg nach Hause!" brüllte Sie aus dem Küchenfenster ihrer Wohnung lehnend, über die ganze Straße hinweg ihrer Tochter nach, wenn meine Mutter zu den wenigen von den Eltern gestatten Tanzteeveranstaltungen des Ortes ging. Mit dieser mütterlichen Anweisung konnte meine Mutter aber gar nichts anfangen. Sie war von meiner Großmutter nie über Sexualität aufgeklärt worden. Über solche Dinge, "Schweinkram", durfte Zuhause einfach nicht gesprochen werden.
"Du Mama. Wenn Papa tot ist kauf ich mir meinen eigenen Ponyhof!" - CosmosDirect Lebensversicherung, 2007

Quelle: http://de.wikiquote.org/wiki/Vater
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RE: Vater werden ist nicht schwer, Vater sein... - von Sixteen Tons - 21-01-2015, 00:46

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